Kerze

Kerzenleben

Was kommt wohl dabei raus? – Treffen sich zwei Leute: Der eine hat einen Lieben verloren, die andere will ihr Leben verlieren. Das ist der Stoff für eine Kurzgeschichte…  Geschrieben habe ich sie für die Caritas, unter dem Motto: „Schenke Licht in schwerer Zeit!“. Ich denke, sie passt ganz gut zum Tag vor dem großen Lockdown.

Alles war dunkel und schwarz. Die vielen Lampen der Stadt gaben sich zwar alle Mühe dagegen anzukämpfen. Doch sie konnten nichts ändern, an dieser dunklen Zeit. Ihr Licht war viel zu kalt und distanziert. So wie das ganze Leben seit über einem halben Jahr.

Endlich Regen
Ihre Kollegen hatte sie schon seit Monaten nicht gesehen, ihre wenigen Freunde auch nicht. Alles wegen diesem Virus, das ausgerechnet die Bezeichnung „Corona“ trug. War die Corona nicht auch dieser gleißende Strahlenkranz, der sich um die Sonne befindet und den man bei einer Sonnenfinsternis als Ring erkennt? Wie paradox!
Und diese Zeit war weit schlimmer als eine Sonnenfinsternis. Früher glaubten die Menschen, ein Drache würde die Sonne verschlucken und fieberten dem Augenblick entgegen, in dem sie wieder auftauchte. Doch heute schien der Drache sie vollkommen verschlungen zu haben, und sie langsam zu verdauen.

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Keine Kollegen, keine Freunde, keine direkten Kontakte. Von ihrem Freund hatte sie sich auch getrennt. Soziale Distanz. Dazu die Angst um ihren Arbeitsplatz und ihre finanzielle Existenz, ihre Wohnung. Sie war allein. Keine Liebe, keine Anerkennung, sie fühlte sich verlassen. Nur überall diese bedrückten und zugleich verdeckten Gesichter. Andererseits war sie auch froh darüber, dass sie eine Maske tragen musste, sobald sie anderen Menschen begegnete. So sah keiner, wie es in ihr aussah. Ihre Nachbarn, die Verkäuferin in der Bäckerei, und selbst ihr Hausarzt nicht. Es sah keiner, dass auch tief in ihr die Sonne längst untergegangen war. Nur die Tränen musste sie manchmal unterdrücken.
Sie wollte und konnte das alles nicht mehr ertragen. Es musste ein Ende haben. Wo war denn noch der Sinn in ihrem Leben? Der Drache hatte ihn mitsamt der Sonne aufgefressen und zurück blieb schmerzende Leere. Zu bedrückend. Gleich hatte sie die Brücke erreicht, dort unten floss der Rhein und in ihm würde sie endlich ihren Frieden finden…

Er hatte noch immer das glückliche Gesicht seines Vaters vor Augen, wenn der jedes Jahr mit dem gleichen Ritual die erste Kerze auf dem Adventskranz angezündet hatte. Das war sein Privileg gewesen. Die zweite entzündete die Mutter, die dritte seine Schwester und die vierte er selbst. Das war schon immer so, solange er denken konnte. Doch dieses Jahr war alles anders. Nun musste seine Mutter beide anzünden. Sein Vater war nicht mehr. Dieses verdammte Virus hatte ihn erwischt und ihm den Lebensatem genommen. Er kam auf die Intensivstation und lag dort noch zwei Wochen völlig isoliert und einsam an der Beatmungs-Maschine, bis sein Körper aufgab und starb.
Der erste Advent ohne seinen Vater, die erste Kerze ohne ihn. Das war unvorstellbar!
Am Tag der Beerdigung auf dem fast menschenleeren Friedhof war ihm eine verrückte Idee in den Sinn gekommen. Vorm offenen Grab musste er an einen Ort denken, den sie früher immer zusammen besucht hatten. Auf der Rheinbrücke gab es eine Stelle mit einem breiten Vorsprung hinter dem Geländer. Hier konnte man sitzen und die Beine baumeln lassen – direkt über Vater Rhein.

Lichtmöwen

Dort hatten sie oft gesessen, es war ihr Geheimplatz gewesen, von dem nur die beiden wussten. Selbst seine Mutter und seine Schwester kannten ihn nicht. Dort würde er heute, am ersten Advent, seinem Vater zu Ehren eine Kerze anzünden.
Als er bei der Stelle angekommen war wurde ihm doch etwas mulmig. Sie hatten ein neues und höheres Geländer installiert, und außerdem war er dreißig Jahre älter als damals, und nicht mehr so gelenkig… Die Stelle wirkte heute richtig gefährlich, so hatte er sie gar nicht in Erinnerung.
Aber er hatte es seinem Vater am Grab versprochen. Und so kletterte er über das Geländer, nachdem er sich umgeschaut hatte, dass ihn bloß keiner sah, und stellte vorsichtig die Kerze im Windlicht auf den Beton-Vorsprung. Er rief sich das freudige Adventskranz-Gesicht seines Vaters vor Augen, zündete die Kerze an und sagte „Die ist für dich, Papa.“

Kaum hatte er es gesagt raschelte es und ein entsetzter Schrei ertönte, der ihm durch Mark und Bein ging. Er zuckte zusammen, verlor das Gleichgewicht und kippte vom Vorsprung. Geistesgegenwärtig hatte er das Feuerzeug fallen lassen. Krampfhaft hielt er mit beiden Händen die Gitterstäbe des Geländers umklammert. Aber was nun? Lange konnte er sich nicht halten. Die Beine hingen in der Luft. Unter ihnen, viele Meter in der Tiefe, floss unbeeindruckt der Rhein.
„Oh Gott, oh Gott“, rief eine Frauenstimme und er spürte, wie eine Hand seinen linken Arm festhielt. „Was machen Sie denn da? Ich bin so erschrocken. Ich wollte doch… Das wollte ich nicht!“
„Egal, helfen Sie mir. Helfen Sie mir hoch! Schnell!“
Hände packten seine Jacke und zogen ihn mit verblüffender Kraft nach oben. Er hangelte an den Gitterstäben, zog sich ein wenig höher. Dann fand einer seiner verzweifelt zappelnden Füße an irgendetwas Halt, er konnte sich hochstemmen und weiter nach oben ziehen, mit Hilfe dieser Frau. Nach unendlich erscheinenden Momenten der Todesangst hatte er es schließlich geschafft, kletterte über das Geländer und sackte zusammen. Neben ihm nahm dieser blonde Engel mit verschmierter Wimperntusche im Gesicht Platz. Es dauerte einen Moment, bis sich beide gefangen hatten und er sie genauer ansah.
„Ulrike?“
Sie sah näher hin und erkannte Peter, ihren ehemaligen Schulfreund. Es war Ewigkeiten her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
„Du hier, und nicht in Hollywood?“
Er lachte. „Stimmt, das hat doch der Herr Franz immer gesagt. Unser Chemielehrer.“
Auch sie lachte – zum ersten Mal seit langem und fühlte, wie gut ihr das tat.
„Ja, weißt du noch, als Hugo der Klassenclown mal das Reagenzglas umgekippt hat und die ganze Bude wochenlang gestunken hat wie ne Stinkbombe.“
„Stimmt! Das war der Hammer damals.“
Sie strahlten sich an und ihr Blick wanderte zur Kerze auf dem Vorsprung, die unter einem kleinen Windstoß zitterte. Sie fragte ihn, was er denn da hinter dem Geländer gemacht hätte.
Dann erzählte er ihr von seinem Vater und dem Adventskranz, und dem besonderen Ort. Und von der Kerze, deren Flamme sich nun wieder beruhigt hatte.

Diese kleine flackernde Kerze hatte sie gesehen. Mitten in der Dunkelheit und Kälte hatte diese sie magisch angezogen, weg von der schwarzen Ewigkeit. Springen konnte sie immer noch.
Doch je mehr sie jetzt in die Flamme dieser Kerze sah, ihr Leuchten in den Augen des Mannes erkannte, wurde ihr ganz anders. Und es lief ihr eiskalt den Rücken runter, als sie hinunter aufs Wasser sah.

Kerze

„Es war so schlimm ihn zu verlieren. Da sieht man wieder mal, wie wertvoll das Leben ist, wenn es einfach so verschwinden kann.“
„Ja, es ist alles so sinnlos.“ Ihre Augen erstarrten beim Blick in den schwarzen Rhein und ihre Sehnsucht nach ihm kehrte ein Stück weit zurück. „Ich meine es passiert so viel Schlimmes. Was ist das für ein Leben? Wo ist da der Sinn?“
Peter schwieg einen Moment und begann dann zu schmunzeln.
„Sowas ähnliches hab ich auch mal zu meinem Vater gesagt. Und er hat dann gemeint:

Junge, schau dir mal die Kerze an.
Da gibt es die bunte Hülle und das Wachs, das ist ihre Lebenszeit.
Dann gibt es den Docht, das ist ihr Lebensweg.
Und dann gibt es die Flamme, das ist ihr Leben.
Das Feuer strahlt Licht und Wärme aus, aber es lässt auch einen schwarzen, verbrannten Docht zurück, ohne den es nicht existieren kann. Es gibt kein Licht ohne Dunkelheit.
Die Dunkelheit ist nichts Böses, sie ist einfach nur ein Teil unseres Lebens.
Was wäre denn schon der Tag ohne die Nacht? Oder die Kerze ohne die Flamme?“

Mit einem Mal schimmerte in den Augen der Beiden etwas Wundervolles, so wie in diesem Kerzenschein auf der Rheinbrücke inmitten tiefster Nacht.

 

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